Justiz und richterliche Rechtsfortbildung unter den Bedingungen des Gesetzgebungsstaates

Das Aufkommen des Interventionsstaates im 19. Jahrhundert bringt auch eine tiefgreifende Veränderung im Rechtsquellengefüge Kontinentaleuropas mit sich. Das gilt weniger für das öffentliche Recht, wo der Staat schon seit Beginn der Neuzeit mit seiner „Policeygesetzgebung“ auf allen für die Öffentlichkeit relevanten Feldern überaus intensiv regulierend tätig wird, dafür um so mehr im Bereich des Privatrechts. Letzteres war bis zum Einsetzen der Kodifikationsbewegung nahezu ausschließlich eine Domäne der Gerichte und der Wissenschaft als den beiden entscheidenden traditionellen Normquellen. Privat- und Strafrecht waren daher während der frühen Neuzeit im wesentlichen ein von den Gerichten und der Rechtswissenschaft geprägtes „Case-Law“. Die Kodifikationsidee ist zu Beginn im 18. Jahrhundert noch ganz von der Vorstellung getragen, der Staat müsse gegenüber den Rechtsgelehrten und den Gerichten ein konsequent durchzusetzendes Monopol rechtlicher Regelbildung statuieren. Die naturrechtlichen Kodifikationen sind noch weitgehend von diesem Bestreben geprägt, indem sie geradezu ängstlich darum bemüht sind, Entscheidungsspielräume für die Justiz wenn irgend möglich zu vermeiden, um auf diese Weise eine strikte Bindung der Richter an die neuen Kodifikationen sicherzustellen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird dieses Bestreben indessen weitgehend aufgegeben. Vielmehr überläßt der Gesetzgeber nunmehr der Justiz ganz bewußt die Feinregulierung in Gestalt des sog. „Richterrechts” und zieht sich in vielen Fällen auf bewusst allgemein gehaltene Generalklauseln zurück. Gleichzeitig präsentiert die Pandektistik eine neue Theorie der „Rechtsfortbildung“. Auf diese Weise pendelt sich im 19. Jahrhundert ein neues Verhältnis zwischen staatlicher Gesetzgebung und justizieller „Rechtsfortbildung“ ein. Dieser Vorgang soll näher untersucht werden: Was sind die justizgeschichtlichen Vorbedingungen dafür, dass die Politik die Normbildung in Gestalt des „Richterrechts“ nicht nur akzeptiert, sondern sogar bewusst darauf aufbaut? Und welche methodengeschichtlichen Implikationen hat dieser Vorgang?

 

Publikationen:

Gesetzgebungsstaat und die „Bindung des Richters an das Gesetz“. Zur Genese eines justizpolitischen Grundproblems, in: Vienna Law Inauguration Lectures. Antrittsvorlesungen an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1, Manz, Wien 2008, S. 67-75.

Inhalt und rechtspolitische Bedeutung der „Einleitung“ des ABGB im Kontext der Kodifikationsgesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts, in: Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt (Hg.), Die österreichische Kodifikation im internationalen Kontext, Frankfurt am Main 2012, S. 1-29.