Die Schönerianer und der Abgeordnete Löcker: Eine Episode aus der Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in Österreich
in: Michael Pammer / Milan Hlavacka / Johannes Kalwoda / Johan Rogister / Luboš Velek (Hgg.),
„Die Heimstatt des Historikers sind die Archive.“ Festschrift für Lothar Höbelt,
Wien 2022, 463-472:
1. Einleitung
In seinen Arbeiten zum Parlamentarismus in der Habsburgermonarchie hat sich Lothar Höbelt oft mit Spielarten und Facetten parlamentarischer Obstruktion auseinandergesetzt. Wohl einmalig scheint eine Aktion im Abgeordnetenhaus aus Anlass der Ankündigung der Regierung über den vorzeitigen Schluss der Reichsratssession am 5. Februar 1909 gewesen zu sein: Berichten der Pressemedien zufolge war es im Anschluss an die Ankündigung der Regierung im Reichsratssaal zu einer handfesten „Keilerei“ (Neue Freie Presse) zwischen Tschechen und Deutschen nach Art einer „Kirchmeßrauferei“ (Reichspost) gekommen. Die „Prügelei“ (Arbeiter-Zeitung) löste sich erst auf, nachdem „im ganzen Haus“ Lieder angestimmt wurden: Den Beginn in diesem „Kampf der Gesänge“ (Reichspost) machten die Tschechen mit nationalen Kampfliedern, „worauf die Sozialdemokraten das Lied der Arbeit anstimmten, die Bürgerlichen mit der Volkshymne konterten und die Freiheitlichen als Draufgabe noch ‚Die Wacht am Rhein‘ zum Besten gaben.“ Eine diesem "Wettgesang" vergleichbare Darbietung, durch Anstimmen von Studentenliedern, hatte sich im Abgeordnetenhaus ein gutes Jahr davor zugetragen, zu Beginn der zweiten Lesung der Wahlrechtsreformvorlagen, welche Anfang 1907 zur Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in Österreich sollte. In Zusammenhang mit der Verlesung des Ausschussberichts kam es am 7. November 1906 im Abgeordnetenhaus zu einer Obstruktion alldeutscher Abgeordneter gegen den Berichterstatter des Wahlreformausschusses, Rechtsanwalt Dr. Julius Löcker, deutschfreiheitlicher Abgeordneter der Stadtgemeindekurie für den Wahlkreis Linz in Oberösterreich. Im Mittelpunkt der Übergriffe der Alldeutschen stand der Vorwurf des Verrats am deutschen Volk – was damals wohl als eine ehrenrührige Injurie empfunden werden konnte, zumal der Beleidigte in Wien Mitglied der schlagenden Burschenschaft Germania war.
Zum weiteren Inhalt:
2. Die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts (Vorgeschichte, Wahlreform im Reichsrat: Einbringung im Abgeordnetenhaus; Wahlreformausschuss: Löckers Kompromissvorschlag; Debatten im Plenum (Ausgangslage - Abstimmung über die Dringlichkeit; Obstruktion der Alldeutschen gegen Berichterstatter Löcker); Fortgang und Ausgang der Wahlreform).
3. Resümee und Ausblick: Die Folgen der Wahlreform (im Allgemeinen, für das national-freiheitliche Lager, für Löcker).