Forschungsschwerpunkt: Entstehung und Konstitution von Kriminologie und Kriminalistik

Das Projekt untersucht die Entstehung und Wechselbeziehungen von Kriminologie und Kriminalistik seit dem 19. Jahrhundert in Europa. Beide Disziplinen entwickeln sich als Hilfswissenschaften des Strafrechts mit starkem Praxisbezug. In ihnen spiegeln sich Bestrebungen nach einer stärker empirischen Ausrichtung insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und an der Wende zum 20. Jahrhundert.

Welche Besonderheiten der Physiognomie ließen sich bei Tatverdächtigen feststellen, die die Identifizierung erleichterten? Und welche tieferen Rückschlüsse erlaubten Anomalien? Konnte man womöglich aus dem Körperbau oder Gesicht kriminogene Neigungen ablesen? – Tafel aus: Alphonse Bertillon, Die Gerichtliche Photographie. Mit einem Anhange über die anthropometrische Classification und Identificirung, Halle 1895, Tafel VIII (nach S.72).

Neue Erkenntnisse der Sozial- und Naturwissenschaften fließen in Konstitution und Selbstverständnis der beiden Fächer ein. Kriminologie und Kriminalistik haben lange Zeit eine enge praktische und theoretische Verbindung. Der Schutz der Gesellschaft als Strafzweck, die Reformen auch des Strafvollzugs und die Normierung und Normalisierung durch Recht gehen Rückkopplungen mit ihnen ein. Auch die gesellschaftlichen und technischen Wandlungen im Einsatz von Medien sind als Faktor zu berücksichtigen. Das Projekt widmet sich den Entstehungsbedingungen und den im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfolgenden institutionellen, methodischen und epistemologischen Differenzierungen beider Disziplinen. 

Diese (rechts-)historischen Entwicklungen stoßen auf besonderes Interesse in einem Moment, da aktuell große Hoffnungen und Befürchtungen in die Entwicklung insbesondere der Biometrie gesetzt werden. Biometrische Systeme sollen in Staat und Gesellschaft zuverlässige Identifizierungen gewährleisten. Es geht um die Regulierung von sozial und rechtlich unerwünschtem Verhalten. Damit einher gehen gesteigerte Versprechungen von Sicherheit und Wohlstand. Der Markt ist groß, die Möglichkeiten (Gigatagging, Körperscanner, Retina, Venenscan) beachtlich, die Umstellung in vollem Gang begriffen. Die gegenwärtigen Diskussionen der neuen Techniken in Recht, Politik und Gesellschaft erinnern an jene, die die Fortschritte der Kriminalistik um 1900 begleiteten: Anthropometrische Bertillonage, Daktyloskopie und Polizeifotografie ergänzten das „Signalement“ in Steckbriefen, Fahndungsblättern, Ausweispapieren. Aber Vergleichungen und Wiedererkennungen setzten schon seinerzeit Archive und Datenbanken voraus, für die man Daten brauchte. Von welchen Personen man sie erheben und speichern durfte, war unklar, eine „Volksdaktyloskopie“ der voraussetzungsreiche Traum mancher Akteure. Das Recht stand vor neuartigen Regulierungsherausforderungen. 

 

Publikationen:  

Miloš Vec, „Europäische Biometrie im 19. Jahrhundert: Semiotische Identitäten in Kriminologie und Kriminalistik“, Vortrag für: Biometrische Identitäten und ihre Rolle in den Diskursen um Sicherheit und Grenzen. Ein transdisziplinärer Workshop, 30.11.2012. Eine Veranstaltung des Berliner Stiftungsverbundkollegs der Alcatel-Lucent Stiftung für Kommunikationsforschung unter Mitarbeit der LFE »Informatik in Bildung und Gesellschaft« der Humboldt-Universität zu Berlin. Humboldt-Kabinett, Rudower Chaussee 25, Berlin-Adlershof. 

Miloš Vec, „Recht, Staat und imaginierte Gefahrenpotenziale“, Kommentar zu: 2. Internationaler Workshop DOC-team: Verdaten. Klassifizieren. Archivieren. Identifizierungstechniken zwischen Praxis und Vision, 24. November 2012, Institut für Wissenschaftsforschung, Universität Wien. 

Miloš Vec, Sichtbar/ Unsichtbar. Entstehung und Scheitern von Kriminologie und Kriminalistik als semiotische Disziplinen, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt am Main 2009, S.383-414.  

Miloš Vec, Die Seele auf der Bühne der Justiz. Die Entstehung der Kriminalpsychologie im 19. Jahrhundert und ihre interdisziplinäre Erforschung, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3/ 2007, S.235-254.  

Miloš Vec, Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879-1933), VIII, 153 S., Baden-Baden (Schriftenreihe der Juristischen Zeitgeschichte – Abteilung 1: Allgemeine Reihe, Band 12) 2002.  

Miloš Vec, Die Spur des Täters. Bertillonage, Daktyloskopie und Jodogramm: Fortschritte und Versprechungen der naturwissenschaftlichen Kriminalistik um 1900, in: Juridikum. Zeitschrift im Rechtsstaat (Wien), 2.2001, S.89-94.

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. Miloš Vec
Lehrstuhl für europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte
Universität Wien
Juridicum
Schottenbastei 10-16
A-1010 Wien
e-mail: milos.vec@univie.ac.at