Ostasiatisch-Europäischer Rechtsdialog: Ein Europäisch-chinesischer Rechtskulturvergleich aus historischer Perspektive
Dass dem Vergleich im Bereich der Sozial- und Kulturwissenschaften besondere Erkenntnischancen innewohnen, ist allgemein bekannt. In der vergleichenden Perspektive verliert das Eigene an Selbstverständlichkeit, wenn der Blick auf eine Vergleichsgröße ganz andersartige Entwicklungsmöglichkeiten und Ausformungen zeigt. Das Eigene kann dann auch schärfer beobachtet werden, weil die Beobachtung des Fremden neue Fragen generiert, die erst gar nicht gestellt werden, solange man im Eigenen verharrt. Mit der Entstehung der theoretischen Grundlagenfächer im Bereich der Rechtswissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt sich daher auch die Rechtsvergleichung als eigenständiges juristisches Fach, nachdem zuvor allerdings zuvor schon die Rechtsgeschichte eine vergleichende Perspektive in die Rechtswissenschaft eingeführt, indem sie den diachronen Vergleich zwischen dem modernen Recht und den der modernen Rechtsordnung voraus liegenden Rechtsordnungen zum Programm erhoben hatte. Bei dem „Europäisch-chinesischen Rechtskulturvergleich“ werden beide Ansätze miteinander verbunden. Dabei sollen die beiderseitigen Rechtssysteme und deren historische Genese als Teil des sie jeweils umgebenden kulturellen Kontextes betrachtet werden: Wie gestalten sich die Interdependenzen zwischen dem Recht und der Religion bzw. der Philosophie? Welcher Stellenwert und welche Bedeutung kommt dem Recht in der Gesellschaft überhaupt zu und wie stellt sich das Wertigkeit des Rechts im Verhältnis zu Normen anderer Provenienz, etwa der Moral und der Sitte, oder eben der Religion dar? Wie autonom sind das Recht und die Justiz im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, etwa der Wirtschaft oder – noch wichtiger – der Politik?
Für ein vertieftes Verständnis des chinesischen Rechts dürfte ein solcher Ansatz unverzichtbar sein. Denn anders als im Falle der europäischen oder zumindest aus europäischer Wurzel stammenden Rechtssysteme kann man beim Umgang mit dem chinesischen Recht und seiner Tradition nicht auf die Basis einer gemeinsamen Wurzel, etwa in der antiken und der christlichen Überlieferung, zurückgreifen. Gemeinsamkeiten entstehen hier im Grunde erst mit der Rezeption europäischen Rechts in der Moderne. Das chinesische Recht wird dem Europäer aber solange verschlossen bleiben, wie er nicht über jenen komplexen kulturellen Kontext aufgeklärt ist, in dem das chinesische Rechtsverständnis wurzelt und aus dem es hervorgegangen ist. Durch die Rezeption europäischen, in erster Linie deutschen Rechts im 20. Jahrhundert dürfte sich daran kaum etwas geändert haben. Denn alles, was man über derartige Rechtstransfers weiß, deutet darauf hin, dass das rezipierte Recht dabei einer tiefgreifenden Veränderung unterzogen wird. Die Beobachtung solcher Rezeptionsvorgänge gehört zu den traditionsreichsten Gegenständen der Rechtsgeschichte. Die Worte eines rezipierten Kodex mögen äußerlich die gleichen bleiben, aber indem die Normen und rechtlichen Ideen in einen neuartigen kulturellen Kontext eingepflanzt werden, verändern sie ihren Gehalt. Denn die Rezipienten lesen die rezipierten Gesetze und Rechtstexte letztlich mit ihren eigenen Augen von ihrem Verständnishorizont aus. Der Königsweg bei der Annäherung an die hier aufgeworfenen Fragen ist der Dialog mit der chinesischen Rechtsgeschichte, denn es bedarf für einen solchen historischen Rechtskulturvergleich genauer Kenntnisse der chinesischen Kultur und des Rechts, das sie hervorgebracht hat. Daher ist auch die Einbeziehung der Sinologen notwendig, weil sie es in erster Linie sind, die – bei jeweils unterschiedlicher Spezialisierung – über ein allgemeines Wissen verfügen, was die verschiedenen Elemente der chinesischen Kultur anbelangt.
In einem ersten Schritt war es erforderlich, einen „Ostasiatisch-Europäischen Rechtsdialog“ in Gang zu setzen. Denn im Gegensatz zu Japan, zu dem es auch auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte eine lange Tradition wissenschaftlichen Austausches gibt, mußte der Gesprächsfaden mit den Fachvertretern der chinesischen Rechtsgeschichte noch aufgenommen werden. Dies geschieht in Form regelmäßig stattfindender Tagungen, die wechselseitig in Wien und Frankfurt am Main bzw. in Peking und Taipeh stattfinden sollen. Dabei wird es jeweils um rechtliche Grundbegriffe gehen, anhand deren sich die elementaren Strukturen der beiderseitigen Rechtssysteme herausarbeiten lassen, etwa: „Rechtsquelle“, „Gesetz und Kodifikation“, „Urteil und Urteilsbegründung“, „Rechtswissenschaft“ usf. Auf europäischer Seite geschieht dies in enger Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Auf chinesischer Seite sind die Chinese University for Political Science and Law (CUPL) in Peking sowie die National Chengchi University in Taipeh beteiligt. Die CUPL firmiert als Schwerpunktuniversität für chinesische Rechtsgeschichte in der Volksrepublik.
Die erste Tagung fand im August 2012 am Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main sowie an der Universität Wien statt. Dabei ging es zum einen darum, sich gegenseitig mit den beiderseitigen Forschungstraditionen auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte vertraut zu machen und begehbare Wege eines verstetigten wissenschaftlichen Dialoges zu finden. Zum anderen wurde damit begonnen, die Basisstrukturen der beiderseitigen Rechtssysteme von der Warte bestimmter rechtlicher und politischer Grundbegriffe aus zu erschließen. Als erstes wurde dabei der Begriff der „Kodifikation“ herangezogen: Welche Rolle spielt die Kodifikationsgesetzgebung im traditionellen Rechtsquellengefüge Chinas und Europas? Im Herbst 2013 fand an der CUPL in Peking eine Tagung .. Für den März 2015 ist nun eine weitere Tagung in Taipeh an der National Chengchi Universität geplant, bei der es um die Bedeutung der Familie in den Rechts- und Sozialstrukturen Chinas und Europas gehen soll. Bei all diesen Fragestellungen sind in der Regel auf europäischer Seite auch Romanisten beteiligt.
Die wissenschaftlichen Kontakte, die hier entstehen, können zum Austausch von Doktoranden genutzt werden; ein Doktorand von der CUPL hat mittlerweile mit einer Arbeit zur Rezeption der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit in China den Doktorgrad der Universität Wien erworben.