Thun´sche Universitätsreform und galizische Romanistik
Thun´sche Universitätsreform und galizische Romanistik
Das Inkrafttreten des ABGB im Jahre 1811 als einer einheitlichen privatrechtlichen Kodifikation für das damalige Kaiserreich Österreich hat bekanntlich zu einer spürbaren Abkoppelung der österreichischen Privatrechtswissenschaft von den rechtswissenschaftlichen Entwicklungen in den übrigen Teilen Deutschlands geführt. Dort haben die sog. Historische Rechtschule und die sich daraus entwickelnde Pandektistik im 19. Jahrhundert ihre größten Erfolge verzeichnet. Auch die österreichische Privatrechtswissenschaft hat dann relativ rasch Anschluss an die entsprechenden gesamtdeutschen Entwicklungen in der Rechtswissenschaft gefunden. Bewirkt wurde dies vor allem durch die von Unterrichtsminister Leo Graf von Thun und Hohenstein seit dem Jahre 1848 forcierte Universitätsreform, in deren Verlauf die rechtshistorischen Fächer, darunter insbesondere auch das Römische Recht, grundlegend aufgewertet wurden. Natürlich hat sich diese Reform auch auf die entsprechenden Entwicklungen im damaligen Kronland Galizien und die dort betriebene Lehre des Römischen Rechts an den Juristischen Fakultäten von Krakau und Lemberg ausgewirkt.
Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts „Thun´sche Universitätsreform und galizische Romanistik"steht demgemäß die Lehre des Römischen Rechts im Kronland Galizien nach dem Jahre 1848 und deren Interdependenzen mit der deutschen Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel des Römischen Rechts und seiner universitären Vermittlung im Kronland Galizien nach dem Jahre 1848 soll gezeigt werden, wie die Thun-Hohensteinische Reform der juristischen Studienordnung im Kaiserreich Österreich umgesetzt wurde. Dies soll einmal aus der Perspektive der „Wiener Zentrale“, also vor allem des Kultusministeriums erfolgen, zum anderen soll aber auch der Widerhall der Wiener Reformdiskussionen in einem slawischen Kronland, eben Galizien, dargestellt werden. Wie werden diese Diskussionen in der slawischen „Provinz“ rezipiert und verarbeitet?
Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt bei der Frage: wie wurde in diesem polnischen Teil des damaligen österreichischen Staates das scheinbar so spezifisch deutsche Phänomen der Pandektistik, wie sie sich unter den führenden deutschen Romanisten der ersten Hälfte des 19. Jh. entwickelt hatte, wahrgenommen und diskutiert? Wesentlich ist, dass dieser rechtswissenschaftliche Diskurs in Galizien damals schon weitgehend auf Polnisch geführt wurde. Denn im Zuge der innenpolitischen Umgestaltungen Österreich-Cisleithaniens etwa seit dem Beginn der 1870er-Jahre hatte im Kronland Galizien eine weitgehende Polonisierung nahezu aller Lebensbereiche stattgefunden. Demensprechend diskutierte man im Kronland Galizien die rechtswissenschaftlichen Fragenstellungen und Probleme auch in der akademischen Debatte spätestens ab dem Jahr 1871 auf Polnisch. Nun war aber der Gegenstand der einschlägigen akademischen Diskussion geradezu par excellence ein solcher der deutschen Gemeinrechtswissenschaft, also der deutschen Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dementsprechend soll im Rahmen des Forschungsprojekts „Thun´sche Universitätsreform und galizische Romanistik" u.a. der Versuch unternommen werden, den das Gemeine Recht bzw. die Gemeinrechtswissenschaft betreffenden Rechtsdiskurs in polnischer Sprache zunächst zu rekonstruieren, um sodann die maßgeblichen Differenzen und Gemeinsamkeiten mit dem Hauptstrom des pandektistischen Rechtsdiskurses in Deutschland zu identifizieren und darzulegen.
Projektlaufzeit bis Dezember 2023.