Die Gründung der Republik, der Vertrag von St. Germain und das Bundes-Verfassungsgesetz

Karl Renner beim Verlassen von Schloss St. Germain, 2. Juni 1919. Quelle: gemeinfrei

In den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges zerfiel die Habsburgermonarchie; am 30. Oktober 1918 gründete eine Provisorische Nationalversammlung den Staat Deutschösterreich. Die Staatsgründung war eine Revolution im juristischen Sinne, der neue Staat sah sich ebensowenig als Rechtsnachfolger der Monarchie wie die zwei Tage früher gegründete Tschechoslowakei. Die Alliierten und Assoziierten Mächte jedoch bezeichneten ihn als "Österreich" und sahen ihn als mitverantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, weshalb sie ihn zur Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain am 10. September 1919 zwangen, mit dem der Kriegszustand formal beendet wurde. Österreich erhielt mit diesem Vertrag die im Wesentlichen bis heute gültigen Grenzen und musste auf einen "Anschluß" an das Deutsche Reich verzichten. Der Vertrag enthielt aber viele darüber hinausreichende Regelungen betreffend Staatsbürgerschaftsrecht, Schutz von Minderheiten, finanzielle, wirtschaftliche und andere Regelungen, von denen viele noch heute in Kraft sind, einige davon sogar Verfassungsrang haben. Zugleich war die Klärung der völkerrechtlichen Stellung Österreichs Voraussetzung dafür, dass Österreich sich auch eine definitive Verfassung gab. Das - auf Entwürfe von Hans Kelsen zurückgehende - Bundes-Verfassunsgesetz vom 1. Oktober 1920 ist (mit Unterbrechung 1934-1945) bis heute die Grundordnung der Republik. Sie ist heute die älteste republikanische Verfassung Europas und wurde vielfach novelliert. Die von Kelsen geschaffene Grundstruktur ist aber bis heute erkennbar.

Meine Arbeiten zu Hans Kelsen waren Anstoß zu einer Vertiefung mit den Anfangsjahren der sog. Ersten Republik. In den Jahren 2017-2021 war ich Nationaler Projektpartner in dem von Anita Ziegerhofer an der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs geleiteten Projekt "Die rechtliche Bedeutung des Vertrags von St. Germain" (FWF-Projekt P 29774). Dieses Projekt hatte insbesondere die Erstellung des ersten juristischen/rechtshistorischen Kommentars des 381 Artikel umfassenden Vertrages zum Gegenstand. Das von 18 Kommentatoren und Kommentatorinnen erstellte Werk wurde 2021 im Verlag Manz veröffentlicht.

2021/22 bewilligten der österreichische Wissenschaftsfonds (FWF) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gemeinsam das Projekt "Making the Austrian Federal Constitution" (FWF-Projekt I 5679-G bzw. DFG-Projekt KA 3448/2-1). Das Projekt hat eine digitale Edition sämtlicher Quellen zur Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 samt wissenschaftlichem Kommentar zum Gegenstand. Projektleiter für den deutschen Part ist PD Dr. Jörg Kammerhofer, Projektleiter für den österreichischen Part ich selbst. Projektstart war der 1. Jänner 2023. 

Projektwebseite

Einschlägige Publikationen

 

 A) Kommentar

  • 1. Der Vertrag von St. Germain
    hrsg gemeinsam mit Herbert Kalb und Anita Ziegerhofer
    Wien: Manz 2021, LXXVIII+806 Seiten

 

B) Herausgegebene Sammelbände

  • 2. Österreichisch-Tschechoslowakische Rechtsbeziehungen 1900–1950
    (= BRGÖ 2022/2, hg. gemeinsam mit Herbert Kalb, Jan Kuklík, Petra Skřejpková, Jaromír Tauchen, Anita Ziegerhofer), Wien: Verlag der ÖAW 2022, 268 Seiten
  • 1. Der Vertrag von St. Germain im Kontext der europäischen Nachkriegsordnung
    (= BRGÖ 2019/2, hg. gemeinsam mit Michael Gehler, Stefan Wedrac u. Anita Ziegerhofer)
    Wien: Verlag der ÖAW 2019, 272 Seiten

 

C) Aufsätze

  • 21. The Idea of Revolution in 1918 (Kelsen's Circle)
    In: Matej Accetto / Katja Škrubej / Joseph H. H. Weiler (Hrsg), Law and Revolution. Past Experiences, Future Challenges, London - New York: Routledge 2024, 31–38.
  • 20. Der Übergang von der Monarchie zur Republik aus staatsrechtlicher Perspektive
    In: Thomas Walter Köhler / Christian Mertens / Anton Pelinka (Hrsg), Ultimo. Österreichs letzter Kaiser im Übergang von der Monarchie zur Republik (Wien 2023), 339–351.
  • 19. Hans Kelsen und die Bundesverfassung
    In: Austrian Law Journal 2022, 28–38 [online]
  • 18. Die Stellung der Tschechoslowakei im Vertrag von Saint-Germain
    In: Herbert Kalb / Jan Kuklík / Thomas Olechowski / Petra Skřejpková / Jaromír Tauchen / Anita Ziegerhofer (Hrsg), Österreichisch-Tschechoslowakische Rechtsbeziehungen 1900–1950 (= BRGÖ 2022/2) 253–263 [online]
  • 17. Die Diskussion um die Kompetenzverteilung bei der Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes
    In: Thomas Olechowski / Christoph Schmetterer / Martin P. Schennach / Ewald Wiederin (Hrsg), Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in Geschichte und Gegenwart (= BRGÖ 2021/2) 271–283 [online]
  • 16. Rechtshistorisches zum Vertrag von St. Germain
    In: Brigitte Mazohl / Kurt Scharr (Hrsg), Epochenumbruch 1918/19? Die Habsburgermonarchie und die Pariser Friedensverträge - eine Neubewertung (= Innsbrucker Historische Studien 34, Innsbruck 2021) 161–172.
  • 15. Die Verfassungsentwürfe zum B-VG
    In: ÖGL 65 (2021) 181–187
  • 14. (gem mit Ernst Bruckmüller) Zur Genese und Geschichte der österreichischen Bundesverfassung
    In: ÖGL 65 (2021) 150–157.
  • 13. Staatsrat und Staatsregierung in der provisorischen Verfassung Deutschösterreichs. Ein Gutachten Hans Kelsens vom Dezember 1918
    In: Gerald Kohl / Christian Neschwara / Thomas Olechowski / Josef Pauser / Ilse Reiter-Zatloukal  / Miloš Vec (Hrsg), Festschrift für Thomas Simon zum 65. Geburtstag. Land, Policey, Verfassung (Wien 2020) 221–233.
  • 12. Das Ringen um die Stellung Wiens in der Diskussion um die Bundesverfassung
    In: Bernhard Hachleitner / Christian Mertens (Hrsg), Wien wird Bundesland. Die Wiener Stadtverfassung 1920 und die Trennung von Niederösterreich (Salzburg-Wien 2020) 47–57.
  • 11. Hans Kelsens Verfassungsentwürfe
    In: Clemens Jabloner / Thomas Olechowski / Klaus Zeleny ua (Hrsg),Die Verfassungsentwicklung 1918–1920 und Hans Kelsen (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 41, Wien 2020) 157–166.
  • 10. Das "Anschlußverbot" im Vertrag von Saint Germain
    In: zeitgeschichte 46 (2019), 371–385.
  • 9. Der Vertrag von St. Germain und die österreichische Bundesverfassung
    In: BRGÖ 9 (2019), 374–383. [online]
  • 8. Die juristische Dimension der Pariser Friedensverträge
    In: 100 Jahre Vertrag von Saint-Germain (= Akademie im Dialog 16), Wien: Verlag der ÖAW 2019, 33–42.
  • 7. Verfassungsentwürfe, Föderalismus und "Anschlussfrage"
    In: Robert Kriechbaumer ua (Hrsg), Die Junge Republik. Österreich 1918/19, Wien-Köln-Weimar: Böhlau 2018, 77–86.
  • 6. Hans Kelsen und die österreichische Verfassung
    In: Aus Politik und Zeitgeschichte 68/34–35 (2018), 18–24. [online]
  • 5. Das Bundes-Verfassungsgesetz (1920)
    In: Heinz Fischer (Hrsg), 100 Jahre Republik. Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018. Wien: Czernin 2018, 44–55.
    Englische Übersetzung unter dem Titel:
    The Federal Constitutional Law (1920)
    In: Heinz Fischer/Andreas Huber/Stephan Neuhäuser (Hrsg), The Republic of Austria 1918–2018. Milestones and Turning Points. Wien: Czernin 2018, 38–46.
  • 4. Hans Kelsen und die Gründung der Tschechoslowakei
    In: Clemens Jabloner / Jan Kuklik / Thomas Olechowski (Hrsg), Hans Kelsen in der tschechischen und internationalen Rechtslehre (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 39). Wien: Manz 2018, 145–156.
    Tschechische Übersetzung unter dem Titel:
    Hans Kelsen a založení Československa
    In: Acta Universitatis Carolinae. Iuridica 63/4 (2017), 13–22. [online]
  • 3. Ignaz Seipel. Vom k.k. Minister zum Berichterstatter über die republikanische Bundesverfassung
    In: BRGÖ 2012, 317–335. [online]
  • 2. Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung
    In: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hrsg), Hans Kelsen: Leben - Werk - Wirksamkeit (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32), Wien: Manz 2009, 211–230.
  • 1. Über Wert und Unwert von Verfassungspräambeln
    In: Tamara Ehs (Hrsg), Hans Kelsen und die Europäische Union. Erörterungen moderner (Nicht-)Staatlichkeit, Baden-Baden: Nomos 2008, 75–93.

 

D) Rezensionen

  • 3. Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (2. Aufl. Düsseldorf 2022)
    Rezension in: MIÖG 131 (2023) 422–424
  • 2. Karl I. (IV.), der Erste Weltkrieg und das Ende der Donaumonarchie, hg. v. Gottsmann, Andreas (Wien 2007)
    Rezension in: ZRG GA 127 (2010) 813–815
  • 1. Böhmer, Peter / Faber, Roland, Die Erben des Kaisers. Wem gehört das Habsburgervermögen? (Wien 2004)
    Rezension in: ZRG GA 126 (2009) 792–794